Verkehrs- und Logistikforscher Prof. J. Rod Franklin (Kühne Logistics University): „Kein Mensch muss im Stau stehen“
LOGISTRA: Professor Franklin, Sie sagen, dass niemand von uns im Stau stehen müsste. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus. Warum?
Franklin: Wir haben jedes Jahr Zeiten, zu denen die Menschen in den Urlaub fahren. Und wir haben jeden Tag Zeiten, zu denen Pendler in die Städte hinein- und auch wieder hinausfahren – hauptsächlich am Morgen und am Abend. Wenn man es intelligent anstellt, kann man verhindern, dass es in diesen Zeiten zu Staus kommt.
Wie soll das gehen?
Eine Möglichkeit sind gezielte Fahrverbote. Wenn man die Lieferverkehre zu den Pendlerzeiten von der Straße nimmt, erzielt man dadurch gute Effekte. Das hat man während der Olympiade 1984 in Los Angeles bewiesen, als zu den Stoßzeiten morgens und abends genau dies gemacht wurde. Der innerstädtische Lieferverkehr wurde per Gesetz in Zeiten mit wenig Verkehrsaufkommen gedrängt. Ähnliches ließe sich für die Ferienzeit denken.
Liefer- und Pendlerverkehre fallen beide in den frühen Morgenstunden an.
Die Frage ist, was frühe Morgenstunden sind und wann Lieferverkehre wirklich stattfinden müssen. Läden können auch in den ganz frühen Morgenstunden beliefert werden. Verderbliche Waren lassen sich ebenso von 5:00 Uhr bis 6:30 Uhr ausliefern. Man sieht diese Verkehre aktuell nur morgens um 10 Uhr, weil es für den Handel so am günstigsten ist. Und warum müssen Lieferverkehre überhaupt morgens stattfinden? Vieles kann auch spätabends angeliefert werden. Aber auch das ist für den Handel unbequem.
Halten Sie das für durchführbar?
In London ist es in der Innenstadt untersagt, zu Stoßzeiten auszuliefern. Der Handel hat hier ein System entwickelt, das ich „anvertrautes Lager“ nenne. Das Transportunternehmen hat dabei einen Schlüssel zu einem Lagerraum, in den es die Güter liefert. Dieser kann je nach Anforderung sogar gekühlt oder besonders gesichert sein. Die Anlieferung erfolgt also am Abend, der Händler entnimmt die Waren am nächsten Morgen.
Lassen sich die Vorteile so eines Systems quantifizieren?
Zunächst einmal belegt ein großer Lkw etwa so viel Platz wie drei Pkw. Viel wichtiger ist aber, dass der träge Lkw beim Bremsen und Beschleunigen nur schwer mit den Pkw mithalten kann. Durch dieses in der Verkehrsforschung „Ziehharmonikaeffekt“ genanntes Phänomen entstehen die meisten Staus. Der Verkehrsfluss verbessert sich, wenn alle Fahrzeuge vergleichbare Geschwindigkeiten und Beschleunigungswerte haben.
Was müsste dazu technisch passieren?
Es gibt zwei Möglichkeiten. Zunächst kann man es einfach per Gesetz verordnen, wie es Städte wie Los Angeles oder auch London bereits getan haben. Zweitens kann man es durch Einsetzen einer Verkehrsleitstelle erreichen, was zu dynamischeren Lösungen führt. Es gibt bereits Experimente, bei denen Lkw die Autobahn nur bei entsprechend geringem Verkehrsaufkommen nutzen dürfen. Die Verkehrsleitstelle meldet den Transportunternehmen entsprechende Fahrzeiten.
Diese Transportunternehmen zahlen bereits erhebliche Summen für den Unterhalt eines Straßennetzes, das sie dann zeitweise nicht nutzen dürften.
Natürlich bräuchte es eine entsprechende Gesetzesgrundlage, um so ein System einzuführen.
Was ist mit nicht-planbaren oder spontanen Verkehren, beispielsweise um im Notfall Produktionsstillstände zu verhindern?
Diese Fälle lassen sich per Ausnahmegenehmigung regeln. Generell muss dann aber klar sein, dass schlechte Planung kein Notfall ist.
Lassen sich entsprechende Prognosemodelle verwirklichen?
Viele Städte führen bereits detaillierte Aufzeichnungen über ihr Verkehrsaufkommen nach Ort und Zeit, sowohl im Tagesverlauf als auch über längere Zeiträume. Diese Daten bilden die Basis eines jeden regulatorischen Eingriffs.
Wie stehen Sie zu einer zeitabhängigen Autobahn-Maut, die etwa tagsüber höher ist als nachts?
Das ist eine weitere Möglichkeit, den Verkehr zu dosieren. Abhängig davon, welchen Verkehrsträger man zu welcher Zeit verteuert, kann man ihn so in andere Zeiten drängen. Allerdings funktioniert es offensichtlich nur für Autobahnverkehre. In Innenstädten braucht man nach wie vor ein anderes System.
Sie wollen auch, dass die Logistikbranche Lkw und Distributionszentren teilt. Wie meinen Sie das?
Von den Logistikfirmen wurden in der Vergangenheit bereits geteilte Lagerhäuser getestet. Leider fielen die Ergebnisse nicht allzu positiv aus. Diese Firmen verdienen ihr Geld durch die individuelle Kundenbelieferung. Zudem herrscht ein gehöriges Misstrauen gegenüber den Wettbewerbern. Die Idee an sich ist aber nach wie vor reizvoll. Etliche Studien kommen zu dem Schluss, dass sich die Zahl der Fahrten um 30 bis 40 Prozent verringern ließe.
Wird so etwas bei den großen KEPDienstleistern bereits angedacht?
Die großen Paketdienste wie DHL und UPS sind nicht die Verursacher, weil sie bereits heute extrem effiziente Systeme betreiben. Es geht um die vielen kleineren Lieferfirmen, die viel geringere Volumen bewegen und die auch nicht die IT haben, um ihre Touren optimal zu planen. Außerdem haben die Städte in der Regel kein Interesse daran, gerade diese regionalen Unternehmen zugunsten globaler Konzerne aus dem Markt zu drängen.
Sie denken auch über die Innenstadtbelieferung per U-Bahn nach. Wie meinen Sie das?
Alle öffentlichen Verkehrsmittel wie U- oder S-Bahnen nutzen eine Infrastruktur, die viele Stunden des Tages nicht voll ausgenutzt ist. Man kann anstelle eines Personenwagens doch auch einen Güterwagen an eine U-Bahn ankoppeln und damit in die Innenstadt fahren, wo er dann entladen wird.
Das klingt sehr arbeitsintensiv.
Es ist in einigen Städten wie Paris oder Amsterdam schon versucht worden. Sobald sich die Leute daran gewöhnt haben, scheint es zu funktionieren.
Man muss gedanklich etwas anders an die Sache herangehen, weil am Anfang und Ende jeweils ein Be- und Entladeprozess steht. Aber auch Lkw müssen be- und entladen werden.
Das Interview führte Tobias Schweikl.
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