Velocarrier GmbH: Logistik mit Lastenrädern statt Lastwagen - Raimund Rassillier, 20 Jahre Erfahrung in Logistikbranche: Per Lastenrad in die City: Wir sind Logistiker!
Wir sind keine Weltverbesserer, wir sind Logistiker. Nur: Statt Lastwagen setzen wir Lastenräder als Transportmittel ein.“ Raimund Rassillier räumt gleich mal mit etwaigen Missverständnissen auf, die aufkommen könnten, wenn das Stichwort „Lastenrad“ fällt. Der gelernte Speditionskaufmann arbeitet seit 20 Jahren in der Logistikbranche, betreibt auch noch eine Schüttgutspedition und sammelte mit einem erfolgreichen Kurierportal erste Erfahrungen in der City-Logistik. Mit der Radkurier-Ecke wollen die Leute der jungen Tübinger Velocarrier GmbH ebenso wenig in einen Topf gesteckt werden wie mit manchem umweltbewegten Lastenradbetreiber. „Wir sind überzeugt, dass wir für die überlasteten Innenstädte eine bessere Lösung anbieten als die herkömmliche Belieferung mit Lastwagen und Transportern“, formuliert Rassillier sein Credo.
Und das meint er vor allem auch ökonomisch: „Es muss sich für den Kunden rechnen, sonst nutzt er den Service nicht.“ Der Firmenchef führt das Beispiel eines großen Ökolandbaubetriebs an. „Eigentlich hätte man angenommen, der bezahlt für nachhaltigen Transport auch ein bisschen mehr. Von wegen, der hatte eine klare Preisvorstellung, sonst wäre er weiter mit seinem alten Sprinter gefahren.“ Umwelt ja, aber es darf nichts kosten, so sei nun mal die Einstellung. Rassilliers ehrgeiziges Ziel: gleiche Kosten bei schnellerem Service.
Sebastian Bühler, Vertriebsleiter der jüngst offiziell gelaunchten Stuttgarter Filiale des im Lizenzsystems organisierten Unternehmens fügt noch hinzu: „Wir wollen niemanden ersetzen, wir wollen das etablierte System ergänzen. Wir sehen uns als Partner von Speditionen und KEP-Unternehmen, nicht als Konkurrenz.“ Denn natürlich sei es Illusion, die kompletten Städte mit Lastenrädern – und seien sie noch so groß und stark – zu versorgen, betont der Logistikprofi, der früher für Rhenania den Kombiverkehr organisiert hat. Aber auf der ersten und der letzten Meile, da spielen die mit der Elektrifizierung des Fahrrads erst plausiblen neuen Transportmittel ihre Stärken aus.
Zwischenlager City-Hub
Klar hat Rassillier auch ein Beispiel parat: Ein großer Spediteur ließ sich neulich von Velocarrier das Modell vorstellen. Dann haute der Chef auf den Tisch und meinte: „Warum sind wir da nicht schon früher drauf gekommen? So wird’s gemacht.“ Der Plan: Statt seine 7,5- und Zwölftonner durch die enge und chronisch überlastete Stuttgarter Innenstadt zu quälen, liefern die Verteilertrucks in den geräumigen City-Hub am Rand der Innenstadt im Stuttgarter Westen. Hier werden die Paletten zwischengelagert und umkommissioniert auf die Lastenräder. Und die letzten Kilometer übernehmen dann die wendigen und leicht zu parkenden Gefährte.
Mehr Skepsis als bei den Speditionen gegenüber Kooperationen herrscht offenbar bei den KEP-Dienstleistern. Denn für die ist das kreisende Paketauto natürlich immer auch „rollender Werbeträger“ und sorgt für Präsenz der „Marke“ in den Straßen. Wie lange die Städte das allerdings noch dulden, sei dahingestellt. Beispiel Stuttgart: „Eigentlich herrscht hier Einfahrverbot in die Fußgängerzone von elf bis 17 Uhr. Nur kaum einer hält sich dran. Wie zum Beweis quetscht sich bei unserer Visite mittags ein großformatiges Paketauto durch den dichten Strom von Fußgängern bis vor ein Geschäft in der Königstraße.
Die elektrisch unterstützten Pedelecs mit dem Namen „Musketier“ stammen übrigens – zufällig lokal – von der Firma Radkutsche aus dem nahen Mössingen und wurden im Laufe des Tübinger Pilotprojekts nach den Wünschen und Bedürfnissen der Logistikpraxis angepasst. „Generell hapert es nach wie vor an Großserientechnik, die dem taffen Logistikalltag Rechnung trägt. Anfangs gingen etwa die Speichen oft kaputt, an vielen Stellen musste verstärkt und nachjustiert werden.
Eines kann aber leider kein Hersteller liefern: „Wir brauchen nicht mehr Tempo als 25 km/h, aber mehr Power für die Steigungen in der Stadt wäre gut.“ Doch da blockiert bisher noch das Gesetz, das den 250-Watt-Riegel vorschiebt.
Ein Netz aus elf Hubs soll entstehen, bisher sind es derer vier. Nach dem Hub-and-Spoke (Speiche)-Prinzip sollen von den lokalen Hubs dann stern- oder speichenförmig die Waren feinverteilt werden in die einzelnen Viertel der Stadt. Das Modell mit den Wechselcontainern, wie es UPS in Hamburg verfolgt, sieht Rassillier als schwierig an. Es sei ja nicht im Sinne der Kommunen, dann diverse Container verschiedener Anbieter herumstehen zu haben. In Stuttgart etwa fänden sich keine Stellflächen dafür.
Wenn, dann müsse das in Kooperation laufen, meint der Logistikprofi. Nicht weiter als 1,5 bis zwei Kilometer von der „Haupthandelsfläche“, wie Rassillier es nennt, solle ein stationärer Hub entfernt sein, wie etwa der Zentralhub in Stuttgart. Entsprechend dem schon fast unheimlichem Wachstum des Sendungsvolumens denkt auch Rassillier groß: „In Städten unter 50.000 Einwohner lohnt sich unser Modell nicht. Wir brauchen Masse – und wir sind gewappnet“, versichert er.
Angepasst ans Lastenrad
Von der Software bis zur Telematik hat man alles auf die Bedürfnisse der Lastenradlogistik angepasst. Statt des anfänglichen Franchise-Systems hat man jetzt auf ein Lizenzverfahren umgestellt, das den lokalen Verantwortlichen mehr Freiheit lässt. „Wir wollen unsere Partner vor Ort nicht gängeln. Wir brauchen ihr lokales Netzwerk. Was wir zur Verfügung stellen, ist der systemische Rahmen und die Marke Velocarrier“, erklärt der Chef.
Sechs Monate etwa kalkuliert er für den Aufbau einer Filiale, binnen kürzester Zeit hat sich Velocarrier allerdings von Tübingen aus nach Stuttgart, Esslingen, Würzburg und Gießen ausgedehnt. Demnächst folgen Reutlingen und Bochum sowie vier weitere Städte 2016. Nirgends hat Rassillier große Probleme, Interessenten und Investoren zu finden, wie er erklärt. Derzeit lägen Anfragen von 30 weiteren Städten und Investoren vor, die das Velocarrier-Modell auch in ihrer Kommune haben wollen. Klar, der Handlungsdruck steigt quasi mit jedem Päckchen. Die Kommunen sehen Rassillier und Bühler nicht nur als Initiatoren und wichtige „Türöffner“ für die Gewinnung lokaler Kunden oder Auftraggeber aus der Logistikbranche. „Wir tun uns natürlich leichter, wenn eine Stadt ein grundsätzliches Bekenntnis zur Lastenradlogistik abgibt“, meint Rassillier. Auf die Schaffung spezieller Lastenrad-Infrastruktur, wie es oft gefordert wird, kann er allerdings verzichten. „Dauert alles viel zu lange – und ist auch immer eine wohlfeile Ausrede, Lastenradprojekte auf die lange Bank zu schieben.“ Man komme auf Radwegen oder den öffentlichen Straßen gut klar – viel langsamer als ein Auto im Stadtverkehr sind seine Biker ohnehin nicht. Und es müsse sich eben einfach noch im Straßenbild etablieren, dass Lastenräder künftig mehr und mehr Teil des städtischen Wirtschaftsverkehrs seien.
Fahrer zu finden ist übrigens kein Problem für den Lastenradlogistiker: „Wir arbeiten großteils mit Studenten zusammen, die den Job wirklich gerne machen.“ Michael Fritz etwa schätzt die Arbeit an der frischen Luft. Noch etwas, was er den motorisierten Kollegen anbieten kann, die kaum noch Kräfte für die Plätze hinterm Lenkrad finden. „Wir geben Spediteuren die Möglichkeit, die wertvolle Arbeits- und Lenkzeit ihrer Lkw-Fahrer sinnvoller einzusetzen, als an Ampeln und in Staus herumzustehen“, erklärt Rassillier.
Auftragsseitig spürt Rassillier einerseits ein großes Interesse, und zwar in einem breiten Spektrum. Angefangen bei Privatkunden: Die ältere Dame, die sich ihre Einkäufe liefern lässt, ein älterer Herr, der wöchentlich eine teure Flasche Wein ordert, führt Rassillier als Beispiele an. In Städten mit älterem Publikum wie Esslingen sei vor allem die Belieferung mit Lebensmitteln gefragt.
Chance fürs Kleingewerbe
Auf der anderen Seite des Spektrums ist man aber im Gespräch mit den großen Industriebetrieben, um deren Innerwerkslogistik oder Kleintransporte von Standort zu Standort mit dem Lastenrad abzuwickeln. Zum tragenden Kundenstamm bereits heute zählt aber das lokale Kleingewerbe, dem Velocarrier übrigens auch einen „Erste Meile“-Abholservice mit deutschlandweitem Anschlussversand anbietet: Steuerberatungskanzleien („man glaubt gar nicht, wie viele Akten täglich transportiert werden“) ebenso wie Zahntechnikbetriebe, Möbelfirmen, Krankenhäuser, Shopping Malls, Weinhändler oder ein Buchladen. „Gerade für die lokalen, nicht filialgebundenen Geschäfte ist das übrigens eine riesige Chance. Statt weiter Onlinehändlern das Feld zu überlassen, können sie mit unserem Transportservice verlorenes Terrain zurückerobern“, beschreibt Rassillier. Er spielt auf den Trend zum Multichannel-Vertrieb an. Und zählt Beispiele auf, bei denen das Angebot eines Bringdienstes den Umsatz massiv erhöht habe. „Das rechnet sich für den Einzelhändler schnell“, ist Rassillier überzeugt. Sein griffiges Motto: „Shoppen statt Schleppen.“ Ein besonders buntes Beispiel ist ein großer Blumenhändler, an dem sich exemplarisch ein weiterer positiver Aspekt zeigt: „Früher kam der Fleurop-Mann mit dem Auto. Heute kommt unser Bote mit dem Lastenrad. Das finden die Leute super.“
Generell, das bestätigen auch die Fahrer, kommen die Transporträder bestens beim Publikum an. Ein Effekt, den Velocarrier natürlich nutzt – und die Flanken der Aufbauten mittlerweile als Werbefläche anbietet. „Du stehst nie lang allein“, grinst Benjamin Smith, der gerade mit einem einspurigen „Rapid“ aus dem Depot ausrückt. Seine Aufträge erhält er übrigens auf ein robustes Smartphone, zugleich mit der Navigation zur Lieferadresse. Und vor Ort hakt er den Auftrag per Klick als erledigt ab und der Kunde erhält automatisiert eine Rechnung. Und schon ist er wieder vom Hof.
So hat es die noch junge, erst 2014 gestartete Firma geschafft, die beiden Antipoden Ökologie und Ökonomie miteinander zu versöhnen. „Es ist schön, wenn die bessere logistische Lösung auch für die Umwelt und die Menschen nachhaltig ist“, so Rassillier. Sein Partner Sebastian Bühler ergänzt: „Ich bin sicher, dass wir solche nachhaltigen Lösungen schon sehr bald brauchen werden, nicht nur, aber vor allem auch in Stuttgart.“ Er rechnet möglicherweise schon früher als 2018 mit einer „blauen Plakette“ oder einer Sperrung der Innenstadt für den Verkehr. „Und dann sind wir da“, meint er voller Überzeugung für eine Idee, deren Zeit er gekommen sieht.
Johannes Reichel
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