Picnic: Technologie-Unternehmen revolutioniert Lebensmittelhandel mit Software & Apps: Wenn der Milchmann in Echtzeit klingelt

Das niederländische Start-up Picnic krempelt den Food-Liefermarkt um und wächst seit April 2018 rasant. Der Lieferdienst ist kostenfrei, elektromobil, garantiert Bestpreise und stellt minutengenau zu. Wir waren in Neuss mit auf Tour.

 Bild: J. Reichel
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Johannes Reichel

Wir sind kein gewöhnlicher Lebensmittelhändler, wir sind in erster Linie ein Technologieunternehmen.“ Arthur Oesterle, Co-Founder des gestarteten Online-Supermarkts Picnic, lässt keinen Zweifel, dass man mit den klassischen Groß- und Einzelhandelsunternehmen des Lebensmittelsegments nicht viel zu tun hat. Man pflegt dagegen eine klare Technologieorientierung. Das heißt, Software und Apps sind hier der Schlüssel zum Erfolg beim Kunden, dem man es so einfach wie möglich macht.

Drei Beispiele für die ausgefuchste Software, die im Hintergrund wirkt: Wer am Vorabend bis 22 Uhr bestellt, bekommt die Waren am nächsten Tag zugestellt – in einem anfangs einstündigen Lieferfenster, das am Morgen auf 20 Minuten schrumpft und schließlich in eine minutengenaue Echtzeitverfolgung in der eigenen Liefer-App sorgt: Auf dem Smartphone-Schirm bewegt sich der quietschrote Wagen über die Karte bis zur Haustür. „Kindern gefällt das kautzige Auto und sie freuen sich immer, wenn Picnic kommt“, berichtet der Mitgründer.

Und die Erwachsenen ebenso: Schließlich können sie minutiös planen, wann sie zu Hause sein müssen, um die Lieferung entgegenzunehmen. Zudem erzielt Picnic mit der Einbindung des Kunden in den Lieferprozess eine Zustellquote von über 99 Prozent. Eine weitere Applikation, die auf GoogleMaps basiert und welche die Fahrer präzise über die Lieferrunde führt, kümmert sich mit trickreichem Algorithmus um optimierte Routenführung. „Wir agieren hier nach dem Milchmann-Prinzip. Unsere Runner fahren auf festgelegten Routen, was deutlich effizienter ist und mehr Zustellungen im gleichen Zeitraum ermöglicht“, beschreibt Oesterle.

Das wäre aber alles Makulatur, wenn am Ende nicht der Preis für den Kunden passen würde. Da kalkulieren die Picnic-Gründer knallhart: Nicht nur ist der Lieferdienst komplett kostenfrei, sondern er verspricht sogar eine Bestpreisgarantie. Wie das geht? Mit einem Algorithmus, der permanent den Lebensmittelmarkt durchforstet und vergleicht, wer das günstigste Glas Nutella anbietet. „So schaffen wir für den Kunden eine Transparenz, die in günstigen Preisen mündet“, erklärt Oesterle. Denn im Gegensatz zum Einzelhandel, der immer mit „roten Preisen“, also Sonderangeboten locke, wolle Picnic für jedes Lebensmittel einen günstigen Preis bieten.

E-Vans sind nicht teurer

Der Erfolg mit den cleveren Applikationen ist immens. Erst im April war das Unternehmen von der Basis Neuss aus gestartet, schnell wuchs die Mitarbeiterzahl auf 100, zum Zeitpunkt unserer Visite im November sind bereits über 200 Mitarbeiter beschäftigt. Entsprechend wurde die „grüne Flotte“, durch die Bank Elektrofahrzeuge von Goupil-G4 mit Werkskoffer, aufgestockt auf nun 50 Fahrzeuge. Trotz vollelektrischen Antriebs sollen die Fahrzeuge nicht teurer sein als ein konventioneller Transporter: Von 25.000 Euro Komplettpreis für den Großbesteller ist in etwa die Rede. Bis Ende 2018 werden es knapp 80 sein.

Beeindruckend ist, wenn einem Oesterle die „Wolke“ an Kunden zeigt, die man in Neuss binnen kürzester Zeit aufgebaut hat: Anfangs ein paar Punkte, jetzt ist die Karte stellenweise komplett rot. „Wir bedienen über 7.000 Haushalte“, berichtet Oesterle stolz. Der Jungunternehmer war zuvor fünf Jahre für eine Strategieberatung tätig. Dann beschloss er, zusammen mit Frederic Knaudt und Manuel Stellmann, die Erfahrungen aus dem Lebensmittelhandel mitbringen, die 2015 gelaunchte Picnic-Idee aus den Niederlanden nach Deutschland zu „importieren“.

Seither ging alles in atemberaubendem Tempo: Pilotprojekt unter dem Arbeitstitel „Sprinter“ mit ausgewählten Kunden ab Oktober 2017. „Da haben wir gemerkt, das kommt bei den Kunden gut an. Aber auch: Unsere Logistik funktioniert, wir haben alles gut im Griff“, erzählt Oesterle.

Auch die ausgefeilte Lagerlogistik und Hardware trägt ihren Teil zum Erfolg bei. Die Alu-Gestelle – hier „Frames“ genannt, wurden eigens designt und fassen die handelsüblichen Lebensmittelkisten und Styropor-Boxen für Kühlgut. Hier gibt es sowohl Frische- als auch Tiefkühlangebote. „Dass wir mit Passivkühlung mit Kühlpacks oder Trockeneis arbeiten, vereinfacht die Technik am Fahrzeug. Und für die übliche Dauer der Lieferrunde genügt das locker“, meint Oesterle. Wieder so ein Faktor, bei dem man Zeit und Geld spart für aufwendige Kühltechnik oder eine komplexe Kühlkette in einem Fahrzeug. Zudem werden alle Aufträge im Fulfilment-Center in Viersen von den sogenannten Shoppern, zum Zeitpunkt unseres Besuchs etwa 90, vorkommissioniert, für jeden einzelnen Kunden und per Barcode exakt zugeordnet.

Teil der Nachbarschaft

Zu dem Erfolg tragen aber auch „softe“ Faktoren bei: „Wir wollen Teil der Nachbarschaft sein, eben so, wie der Milch- oder Eiermann es früher waren“, skizziert Oesterle und man glaubt ihm das durchaus. Daher setzt man beim Personal auf Schüler und Studenten, die auch aus der Gegend kommen. „Dass ein junger Mann bei seiner ehemaligen Englisch-Lehrerin zustellt, das kommt schon mal vor. Ist aber durchaus beabsichtigt“, ergänzt der Co-Gründer schmunzelnd. So schafft man eine Kundenbindung, wie sie kaum ein Lieferdienst hinbekommt.

Für Straßenfeste verleiht man eine Hüpfburg, beim Schützenfest zeigt man als „cooles“ Start-up Präsenz. Und wenn einer Jugendgruppe 800 Überraschungseier, die als Geschenk gedacht waren, geklaut werden, springt man ein und beschafft Ersatz. Im Gegenzug kommt aber auch etwas zurück:

An Weihnachten bekommen die „Runner“, wie die Lieferboten hier heißen, schon mal ein paar Gaben in die Hand gedrückt, in der Zentrale trudeln Grußkarten ein. Neulich hat ein dankbarer Kunde mit einem 3D-Drucker Schlüsselanhänger mit Picnic-Logo fabriziert. Und nicht zuletzt: „Wir erhalten Hunderte von Verbesserungsvorschlägen und Anregungen“, erzählt der Gründer. Etwa: für die Plastiktüten in den Boxen doch Biokunststoff zu verwenden, der recycelt ist und kompostierbar. „Wir legen Wert darauf, mit unseren Kunden den Dienst besser zu machen.“ Zum Beispiel, indem man eine Samstagszustellung ergänzt, die es seit Kurzem auf vielfachen Wunsch gibt.

Ausgangspunkt der Geschäftsidee war die Frage, warum im Lebensmittelbereich der Anteil an Onlinebestellungen im Vergleich zu Möbeln, Büchern, weißer Ware, Elektronik so verschwindend gering ist mit gerade mal einem Prozent. Die Picnic-Leute stellten fest: Es war zu teuer, es war unbequem, es war wenig pünktlich. Exakt daran hat man gearbeitet.

„Wir peilen ganz klar auf den Massenmarkt, nicht auf eine Nischenanwendung“, skizziert Unternehmer Oesterle. Diesen zu erschließen hat man sich für den Start bewusst Mittel- und nicht die Großstädte ausgesucht: Kaarst, Neuss, Meerbusch, Düsseldorf-Oberkassel und Mönchengladbach sind bisher die Liefergebiete, jüngst kam Krefeld dazu. „In Städten wie Neuss können wir unsere Systeme erproben und optimieren. Es gibt maximal zwei- bis dreigeschossige Häuser, das spart Zeit bei der Zustellung. Außerdem steht man weniger im Stau als in Köln oder Düsseldorf“, skizziert Oesterle. Klar ist aber, wenn man richtig „groß“ werden will, muss Picnic irgendwann in Großstädten bestehen. Dann aber möglicherweise mit anderen Liefermethoden, mit denen man weniger vom in Stoßzeiten kollabierenden Metropolverkehr abhängig ist, etwa mit E-Cargobikes.

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Komplette Elektroflotte

Und wie sieht es in Anbetracht dieser Ambitionen mit der Nachhaltigkeit aus? Oder anders gefragt: Kann denn Masse noch „nachhaltig“ sein? Hier setzt man eben auch einen entscheidenden Kontrapunkt zu normalen Lieferdiensten: Der Fuhrpark setzt ausschließlich auf die kauzig anmutenden, aber zweifellos für die Anwendungszwecke idealen Leicht-Elektro-Vehikel (L7E) von Goupil, die ohne Koffer gerade mal 582 Kilo auf die Waage bringen, aber 1,2 Tonnen Tragfähigkeit bieten. Die 135 Kilometer Reichweite des von einem 12-kWh-Lithium-Ionen-Akkus und einem 10-kW-Asynchron-E-Motor-Gefährts sind genug, sprich der Energieverbrauch minimal. Geladen wird nicht komplex per Hochvoltstrom, sondern über Nacht an Haushaltssteckern.

„Okay, die Federung ist eher robust, wir sitzen eben direkt auf der Achse. Aber daran gewöhnt man sich“, meint Alexander Ebel, einer von 110 „Runnern“, mit dem wir auf Liefertour gehen. Er ist – prototypisch für viele Picnic-Fahrer – Student in Köln, wohnt in Neuss und macht den Job nebenbei. Ebel schätzt die coole und junge Start-up-Atmosphäre, die flexiblen Arbeitszeiten und kann sich durchaus mehr vorstellen: „Ich finde das ganze System spannend. Vielleicht kann ich auch mal mehr machen als nur ausliefern und mich zum Hub-Manager weiterentwickeln“, meint er. An den Fahrzeugen gefällt dem wie üblich in Firmentrimm mit roter Schürze bewehrten Lieferfahrer die tolle Übersicht, die Automatik, die extreme Wendigkeit und dass man auch mal schnell in einer Einfahrt stehenbleiben kann. Lang dauert das nicht: Die Vorkommissionierung pro Kunde bewährt sich hier und Ebel sieht auf dem sogenannten Tour Sheet genau, wo sich welche Box befindet – sogar ob links oder rechts im Aufbau ist verzeichnet.

Außerdem führt ihn das robuste Zebra-Smartphone-Device exakt über die Lieferroute. Die gegenläufig angeschlagenen Türen, der ebenerdige Einstieg ins Fahrzeug, die ruckzuck öffnende Rollplane, der knackige Formschluss mit zwei Roll-Frames im Auflieger ohne weitere LaSi, all das spart in Summe Zeit. Und sorgt dafür, dass die Picnic-Autos, die sich zudem mit 1,35 Metern extrem schmal und mit 3,60 Meter Länge extrem kurz machen, selbst in einer engen Neusser Allee nicht wirklich stören. Mit einem normalen Transporter wäre hier alles dicht. Prompt gibt ein Empfänger auf unserer kurzen Tour Ebel einen Abkürzungstipp für das nächste Mal, den der Fahrer akribisch notiert.

Bündelung senkt Verkehr

Was aber, wenn die Picnic-Idee weiter Schule macht und man den Dienst von drei Schichten – die dritte startet heute um14:29 Uhr (!) – ausweiten müsste? Wären dann die Straßen von Neuss, jüngst Krefeld, irgendwann von Düsseldorf oder Köln voller Picnic-Wagen? Da macht Oesterle eine ganz andere Rechnung auf: „Wir helfen den Verkehr zu reduzieren, und zwar drastisch“, insistiert er. Durchschnittlich 912 Kilometer bewältigt jeder Deutsche jährlich auf dem Weg zum Supermarkt, meist mit dem Auto. „Nebenbei verbringt man 20 Arbeitstage im Supermarkt“, rechnet er weiter vor und betont: „Das ist Beschaffung im wahrsten Sinne des Wortes.“ Man spart also nicht nur Verkehr ein, sondern den Leuten auch viel Zeit und Mühen.

Was man ebenfalls dramatisch reduziert im Vergleich zum klassischen Lebensmittelhandel mit seiner systemimmanenten Überfülle an Warenangebot: die Menge von weggeworfenen Lebensmitteln. Neben ethischen Erwägungen stellt das einen gravierenden Kostenfaktor für die Lebensmittelketten dar. 230 Kilo Lebensmittel pro Bundesbürger werden jedes Jahr weggeworfen, eine irrwitzige Verschwendung von Ressourcen, findet Oesterle. „Wir bestellen am Abend bei unseren Lieferanten nur das, was auch bei uns bestellt wird. Da gibt es keinen Verlust“, skizziert der Gründer. Zudem spart man sich den immensen Aufwand, über feste und teure Standorte Lebensmittel zu vertreiben. Bei Picnic braucht man nur ein Zentralllager (in Viersen), aus dem dreimal täglich ein Sattelzug mit Trockenfracht-Auflieger ausrückt, die Hubs in Neuss und Mönchengladbach versorgt und die leeren Frames samt Boxen wieder mitnimmt. Nicht mal zehn Minuten dauert es, bis der Auflieger leer ist.

Die vielen kleinen Faktoren tragen dazu bei, dass sich das Geschäftsmodell von Picnic schnell trägt. Binnen eines halben Jahres soll jeder Picnic-Hub profitabel sein. Und wenn man nebenbei die Welt ein bisschen besser macht, ist es umso schöner. So sehen es jedenfalls die drei jungen Macher von Picnic Deutschland. jr

Bilder: J. Reichel; Picnic

Fazit: Lieferdienst statt Supermarkt?

Das Konzept von Picnic ist so einleuchtend, dass man sich fragt: „Warum ist da nicht schon früher jemand drauf gekommen?“ Und das hat nun wiederum viel mit der „schönen neuen Digitalwelt“ zu tun, die einen nicht nur auf Ideen bringt, sondern diese auch in kürzester Zeit umsetzen lässt. Und zwar von Leuten, die eben einen technologischen, weniger einen primär logistischen Blick haben.

Firmen wie Picnic zeigen, wie das geht. Klar, das ist „disruptiv“, in diesem Fall für den Einzelhandel, aber nicht im Sinne reiner Zerstörung, sondern einer Verbesserung des urbanen Lebens. Wenn man den Faden mal weiterspinnt: Die riesigen Parkplätze vor riesigen Supermärkten, die kann man nun wahrlich bessernutzen in den ohnehin hochverdichteten Städten, für Wohnungen, Freizeitanlagen etcetera. Und die langen Fahrzeugschlangen im Shopping-Center einhergehend mit immensen Abgasemissionen wird auch keiner vermissen. Geschweige denn die an der Kasse …

 

 

 

 

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Seite 42 bis 45 | Rubrik Märkte & Trends