Bertelsmann: Warum kein Hochregallager? - Heute: Benötigen wir überhaupt ein Lager?: Trends im Hochregal

Wie sich die Bestände in deutschen Hochregallagern im Laufe der Zeit verändert haben.

Symbolbild LOGISTRA (Foto: T. Schweikl)
Redaktion (allg.)

Als Anfang der 1960er Jahre das erste deutsche Hochregallager bei Bertelsmann errichtet wurde, sahen nur wenige dessen Potenzial. Als in den 1970er Jahren seine Automatisierung einsetzte, zogen die Argumente Flächeneinsparung und Substituierung manueller Arbeitskraft kaum. Die damalige Frage „warum eigentlich ein Hochregallager?“ wandelte sich im Laufe der Jahre in „warum kein Hochregallager?“. Und heute heißt die Frage: „Benötigen wir überhaupt ein Lager?“
Eine Arbeit zur Effizienz von Stapler-Leitsystemen war Anlass, einige Gedanken zur Lagertechnik zu überprüfen. Das zu untersuchende Musterlager hatte genau 12.000 Palettenstellplätze. In der Literatur wird diese Zahl als mittlere Größe für Palettenlager genannt. Wir prüften diese Zahl an Hand der Hochregallagerdatei des Fachgebietes und fanden als Mittel dort zirka 8. 400 Stellplätze.
Wie passen zwei so unterschiedliche Zahlen zueinander? Tatsächlich ist die mittlere Zahl der Stellplätze bei Paletten-Hochregallagern von 4.000 in den Anfangsjahren auf 12.000 heute gestiegen. Dies ergibt sich aus den gemittelten Werten (Ausgleichskurve) und deren Extrapollation bis ins Jahr 2010 (vgl. Abbildung).
Versuchen wir eine Erklärung. Zunächst sei darauf hingewiesen, dass auch im Bereich der Endmontage der Automobilindustrie neue automatisierte Lager entstanden und entstehen. Es gibt eine Reihe von Artikeln, die weniger werthaltig und weniger individualisiert sind als diejenigen, die nur nach Kundenauftrag gefertigt und JIT/JIS angeliefert werden. Für solche Artikel können ein „Milk Run“ in der Beschaffung und eine Lagerung beim Endverbraucher sinnvoll sein. Mit dem Konzept des Konsignationslagers gelingt es dem Unternehmen dennoch, diese Bestände von seiner Bilanz fern zu halten und Zinsaufwändungen zu minimieren. Mit dem Konzept des Vendor Managed Inventory VMI kann es zudem Komplexität in der Beschaffung verringern.

Bestände beim Zulieferer

Verfolgt man die Supply Chain der anderen (JIT/JIS) Artikel, so erkennt man, dass teilweise eine Production on Demand so kurzfristig wie letztlich gefordert nicht möglich ist. Dies führt zum Aufbau von Beständen bei Zulieferern, die sich in einer steigenden Zahl von Hochregallagern auch dort manifestieren.
Es ist weiter zu bedenken, dass es in der Distributionslogistik einen Trend zur Konzentration gibt. Dank immer schnellerer Lieferungen werden aus regionalen Zentren nationale Läger. Durch den Entfall von Zollformalitäten werden aus nationalen Zentrallagern durch Zusammenlegung Europaläger. Eine derartige Konzentration schafft zugleich die kritische Masse, die dann die Automatisierung wirtschaftlicher macht als eher manuelle Alternativen. Dies mag eine plausible Erklärung für die Zunahme der Stellplatzzahl bei den Paletten-Hochregallagern sein. Wie ist aber der im Vergleich dazu nahezu konstante Wert „Palettenstellplätze/Regalbediengerät“ zu interpretieren ?
Die Zunahme der Stellplatzzahl je Lager widerspricht bei einem Konzentrationsprozess als Ursache ja nicht der Erwartung, dass die Bestände im Mittel sinken. Gerade auch eine Konzentration an sich resultiert schon in einer Bestandssenkung, da durch die Konzentration insgesamt geringere Sicherheitsbestände erforderlich sind. Da aber volkswirtschaftlich und exemplarisch betriebswirtschaftlich die Erhöhung des Lagerumschlags beobachtet werden kann (Kehrseite einer Bestandsreduzierung) muss es eine Erklärung geben, dass sich die Stellplatzzahl, damit letztlich der physische Bestand, je Regalbediengerät kaum verändert hat.
Es bieten sich hier gleich eine Reihe von Interpretationen an. Regalbediengeräte sind leistungsfähiger geworden. Die Bauweise ist leichter, Beschleunigungs- und Verzögerungswerte sowie erreichte Endgeschwindigkeiten deutlich höher als in der Anfangszeit des Hochregallagers. Die Steuerungstechnik ermöglicht es schon seit vielen Jahren, punktgenau und auf kürzestem Wege die Soll-Positionen zu erreichen. Je nach den Abmessungen des Hochregallagers sollten damit Spielzeitreduzierungen um 25 bis 35 Prozent gegenüber den Anfangsjahren möglich sein.

Mehr kombinierte Spiele

Hinzu kommt, dass bei den älteren Anlagen reine Fertigwarenlager dominierten. Ihre Einlagerungsfrequenz mochte sich an der Produktion orientieren. Die Auslagerung erfolgte in engen Zeitfenstern. Die Möglichkeit der Realisierung kombinierter Spiele (plus rund 40 Prozent Leistungssteigerung gegenüber Einzelspielen) ergab sich damit nur für einen kleinen Anteil der üblichen Betriebszeit.
Mit der Integration von Kommissionierung und Reservelagerung in ein System und vor allem bei produktionsintegrierten Anlagen (Ver- und Entsorgung der Produktion) dehnt sich der zeitliche Anteil kombinierter Spiele deutlich aus. Im Worst Case, dem Vergleich von 100 Prozent Einzelspielen auf Basis heute veralteter Mechanik und Steuerungstechnik mit 100 Prozent Doppelspielen modernster Technik ist bei scheinbar gleicher Bauart durchaus eine Verdopplung des Durchsatzes vorstellbar. Zudem sind Betriebszeiten ausgedehnt worden und werden sich weiter ausdehnen.
Statt einer Dimensionierung der Anlage auf die Spitzenstunden des Spitzentages am Ende des Planungshorizonts (das heißt dann auch unter Einbeziehung des für die kommenden zehn Jahre erwarteten Wachstums) wird genauer überlegt, ob man temporäre Spitzen nicht durch Mehrarbeit auffängt und auch, ob nur für kurze Zeit saisonal benötigter zusätzlicher Lagerplatz auch angemietet werden kann.
Kurz gesagt, man kann durchaus unterstellen, dass die heutigen Lager in hohem Maße auch Produkt eines Konzentrationsprozesses in der Lagerhaltung und Distribution sind, dadurch und durch die allgemein immer kürzer werdenden Lieferzeiten (Produktion und Handel) deutliche Bestandssenkungen erfolgt sind und die so sich zwangsläufig ergebenden signifikant gestiegenen Umschlagswerte auch realisiert werden. Nur wird dies eben nicht auf den ersten Blick erkennbar.

 

Autor:

Prof. Dr.-Ing. Wolf-Michael Scheid (65), ist Leiter des Fachgebiets Fabrikbetrieb und Leiter des ­Instituts für rechnerunterstützte Produktion an der Fakultät für Maschinenbau der TU Ilmenau sowie Leiter des Fachausschusses „Logistiksysteme und ­Logistik­management“ der VDI GPL Gesellschaft ­Produktion und Logistik.

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