Lastenräder: Projekt InkluServ unterstützt Auslieferungsfahrer mit Behinderung

Menschen mit Behinderung in die Lebens- und Arbeitswelt von Nichtbehinderten integrieren – diese zentrale Forderung der UN-Menschenrechtskonvention setzt das Fraunhofer IAO gemeinsam mit der Behindertenwerkstatt WEK und dem Softwarespezialisten GTS im Projekt „InkluServ“ um.

Schwerbehinderte Auslieferungsfahrende einer Behindertenwerkstatt nutzen ein digitales Assistenzsystem, um Waren mit einem E-Lastenbike auszufahren. | Bild: Kruschina/WEK Werkstätten Esslingen-Kirchheim gGmbH
Schwerbehinderte Auslieferungsfahrende einer Behindertenwerkstatt nutzen ein digitales Assistenzsystem, um Waren mit einem E-Lastenbike auszufahren. | Bild: Kruschina/WEK Werkstätten Esslingen-Kirchheim gGmbH
Tobias Schweikl

Von den 2,6 Millionen erwerbstätigen Menschen mit Behinderung in Deutschland arbeiten 367 000 in Handel und Gastgewerbe, weitere 310 000 sind in 683 Werkstätten für Menschen mit Behinderung (WfbM) beschäftigt. Insbesondere die direkte Arbeit mit Kunden bietet dem schwerbehinderten Servicepersonal die Chance auf unmittelbare Inklusion in die Lebens- und Arbeitswelt von Nichtbehinderten. Denn der persönliche Kontakt mit dem Kunden fördert die erlebte Wertschätzung, da die Mitarbeitenden mit Behinderung als selbstständig handelndes Individuum und nicht als betreute Person wahrgenommen werden.

Aus diesem Grund haben die WEK Werkstätten Esslingen-Kirchheim das Projekt „InkluServ“ initiiert, an dem das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation IAO als wissenschaftlicher Partner mitwirkt. Ziel des Forschungsprojekts ist der Einsatz eines digitalen Assistenzsystems für schwerbehinderte Mitarbeitende in einem inklusiven Supermarkt und Café in Plochingen.

Die digitale Unterstützung macht es möglich, dass Menschen mit Handicap außerhalb der unmittelbaren Betreuungsbereiche der Werkstatt selbständig mit Kunden interagieren. Dazu wird das Assistenzsystem auf den Tablets der WEK Werkstätten Esslingen-Kirchheim gGmbH installiert. Das barrierefreie Tool enthält die Module Tourenplanung, Navigation und Webshop. Dadurch können schwerbehinderte Auslieferungsfahrerinnen und -fahrer ihre Kunden mit dem E-Lastenbike erreichen und die Warenauslieferung selbständig durchführen.

Bestellte Ware an Kunden auszuliefern, ist kein einfacher Job – erst recht nicht für Menschen mit Behinderung. Diese müssen nicht nur ihre Tour so planen, dass mehrere Kunden an verschiedenen Adressen mit einzelnen Teillieferungen angesteuert werden, sondern sind an der Haustür der Kunden mit ungewohnten Herausforderungen konfrontiert.

Da der Kunde aktiv am Dienstleistungsprozess beteiligt ist, kann sein Verhalten den Auslieferungsprozess spontan verändern. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn der Kunde mit der ausgelieferten Ware nicht zufrieden ist, über zu wenig Bargeld für die Bezahlung der Lieferung verfügt oder die Ware zu spät geliefert wird. In solchen Fällen muss der schwerbehinderte Auslieferungsfahrende auch mit unterschiedlichen Emotionen des Kunden umgehen können, z. B. wenn dieser freundlich, gestresst oder verärgert reagiert. Gleichzeitig muss der mobile Dienstleister auch mit seinen eigenen Emotionen angemessen umgehen.

Neben diesen emotionalen Stressfaktoren müssen auch physische Risiken in Abhängigkeit von der jeweiligen Behinderung beachtet werden, wie z.B. gefährliche Wege oder ein hohes Verkehrsaufkommen. Um die Anforderungen der interaktiven Arbeit mit Kunden an schwerbehinderte Menschen im Vorfeld zu erfassen, testet das Fraunhofer IAO den Prozess der Auslieferungsfahrten vorab zusammen mit den Beteiligten. Auf diese Weise werden Lücken zwischen den Anforderungen und den Kompetenzen der Auslieferungsfahrenden frühzeitig erfasst und der Qualifizierungsbedarf ermittelt.

Auslieferungsfahrende mit Behinderung qualisfizieren

Die WEK Werkstätten besitzen umfangreiche Erfahrung mit der Qualifizierung von Menschen mit Behinderungen. Im Berufsbildungsbereich der Werkstatt werden schwerbehinderte Beschäftigte in Form von Arbeitsprojekten, Trainings, Schulungen und Praktika auf ihre späteren Aufgaben in den Arbeitsbereichen vorbereitet. Das Vorgehen orientiert sich an der neuen Bildungssystematik für WfbM, die differenzierte Fähigkeitsprofile für die eignungsdiagnostische Abklärung der Fähigkeiten eines neuen Beschäftigten vorsieht.

Dies ist die Basis für passgenaue und personenzentrierte Bildungsleistungen, die sich einerseits – zur Erhöhung der Vermittlungsquote an den ersten Arbeitsmarkt – an den anerkannten Ausbildungsberufen orientieren und andererseits die Fähigkeiten der Menschen mit Behinderungen individuell berücksichtigen.

Grundlage der Ausbildung von Menschen mit Behinderungen sind modulare Bildungseinheiten, mit deren Hilfe die Auswahl, Qualifizierung und Betreuung der Beschäftigten individuell an den Fähigkeiten und dem Unterstützungsbedarf des Einzelnen ausgerichtet wird. Auf dieser Erfahrungsbasis wird die WEK im Projekt „InkluServ“ die für die Auslieferungsfahrten benötigten Kompetenzen mit den vorhandenen Kompetenzen der schwerbehinderten Beschäftigten abgleichen und geeignete Qualifizierungsmodule erarbeiten, die den genannten Kompetenz- und Qualitätsanforderungen entsprechen.

Tourenplanungssoftware für schwerbehinderte Auslieferungsfahrer

Jene Kompetenz- und Qualitätsanforderungen berücksichtigt auch die vom WEK eingesetzte Tourenplanungssoftware der GTS Systems and Consulting. Das Aachener Unternehmen stellt seine Software „TransIT“ zur Verfügung, die bereits langjährig bei karitativen Einrichtungen wie dem Malteser Hilfsdienst, den Johannitern sowie bei Diakonie und Caritas im Einsatz ist.

Für die Tourenplanung des Projektes „InkluServ“ berücksichtigt GTS im ersten Schritt die Personenbeförderung der Menschen mit Behinderung. Hierbei werden Kriterien wie Platzbedarf für Rollstühle oder die Anzahl benötigter Betreuungspersonen miteinbezogen und bei der Berechnung einer Tour mit den Merkmalen der Fahrzeuge (z.B. verfügbare Vorrichtung für eine liegende Beförderung) in Übereinstimmung gebracht. Die WEK ist dadurch in der Lage, die zu befördernden Personen optimal auf die zur Verfügung stehenden Fahrzeuge zu verteilen.

Ähnliches gilt für den Transport von Produkten: Etwa bei Essenslieferungen müssen die Merkmale des Fahrzeugs (wie z.B. vorhandene Vorrichtungen für Kühlung oder Erwärmung der Mahlzeiten) mit der Art und Anzahl der Transportbehälter für das Essen zusammenpassen.

GTS bearbeitet im Projekt die Fragestellung, wie die physischen und psychischen Fähigkeiten der schwerbehinderten Auslieferungsfahrer als Merkmale in der Tourenplanungssoftware erfasst werden können. Ziel ist es, diese Merkmale innerhalb der Software durch geeignete Algorithmen in Übereinstimmung mit den Routen- und Kundenkriterien zu bringen.

Zu den Routenkriterien zählen der Schwierigkeitsgrad von Wegen oder die Anzahl der Stockwerke, die der Auslieferungsfahrende mit der Lieferung zu Fuß bewältigen muss, während die Kunden- bzw. Mitarbeiterkriterien allen voran dessen jeweilige körperliche Konstitution berücksichtigen. Einbezogene Produktkriterien wie der Kühlbedarf von Lebensmitteln spielen bei der Berechnung ebenfalls eine Rolle.

Die genannten Kriterien fördern Daten und Informationen zu Tage, die essenziell für eine optimierte und individuell abgestimmte Tourenplanung sind. GTS will die Tourenplanungssoftware mit einem Navigationssystem der eingesetzten Lieferfahrräder koppeln und darüber hinaus eine integrierte Oberfläche für das vom WEK genutzte Assistenzsystem entwickeln.